„Wir waren gerade dabei, uns ein Leben in Namibia aufzubauen, als ein Anruf alles veränderte. Ein ehemaliger Kollege fragte meinen Partner John, ob er als Berater an einem Projekt mitarbeiten wolle. In Saudi-Arabien. Vollzeit, Dauer unbekannt. Nach langem Überlegen siegte die Neugier – und das war gut so.“ Annika Brohm, Journalistin
Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl der Zerrissenheit, das mich in den Tagen nach dem Anruf begleitete. Es war immer mein Traum gewesen, als freie Journalistin im südlichen Afrika zu leben, und nun ging er endlich in Erfüllung. Saudi-Arabien hingegen hatte mich nie gereizt. Ich hatte das Bild eines brutalen, frauenfeindlichen Regimes vor Augen, in dem strenge Regeln den Alltag bestimmen.
Nach langem Überlegen siegte die Neugier: Ich wollte erleben, wie sich eines der verschlossensten Länder der Welt öffnet. Davon hatte ich zumindest in etlichen Zeitungsartikeln gelesen. Kurz darauf, im März 2022, landeten wir in Saudi-Arabien. Unser Aufenthalt begann in Tabuk, einer konservativen 600.000-Einwohner-Stadt im kargen Nordwesten des Landes. Darauf folgten zwei Monate in der deutlich liberaleren Küstenstadt Dschidda. Es war eines der herausforderndsten und zugleich spannendsten Kapitel meines Lebens. Aber dazu später mehr.
Viel Öffnen eines geschlossenen Landes
Saudi-Arabien ist in Aufbruchstimmung. Angetrieben von seiner „Vision 2030“ modernisiert Kronprinz Mohammed bin Salman das Königreich in einem rasanten Tempo. Vor allem für die Frauen hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert. Seit 2018 dürfen sie Auto fahren. Sie sind nicht mehr gesetzlich verpflichtet, eine schwarze, bodenlange Abaya zu tragen. Und: Sie dürfen ohne Zustimmung ihres männlichen Vormunds arbeiten und studieren. Das mag selbstverständlich klingen. Doch in dem streng konservativen Königreich glichen die Reformen einem Paukenschlag.
Dahinter stecken auch wirtschaftliche Interessen. Saudi-Arabien will sich vom Öl unabhängig machen und seinen Privatsektor stärken. „Unser Ziel ist es, die besten saudischen und ausländischen Köpfe anzuziehen und ihnen alles zu bieten, was sie brauchen“, heißt es in der Vision 2030. Viele sind diesem Ruf bereits gefolgt. Von Tabuk bis ans Rote Meer arbeiten Expats im Norden Saudi-Arabiens an der Megacity NEOM. Auf einer Fläche größer als Hessen soll sie unter anderem die 170 Kilometer lange Bandstadt „The Line“, einen Industriestandort mit Hafen sowie Ferienresorts am Meer und in den Bergen umfassen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wer derzeit durch die Wüstenregion fährt, sieht von NEOM nicht viel mehr als ein paar Hinweisschilder und Baustellen. Sein touristisches Ziel hat Saudi-Arabien dagegen bereits erreicht: Im Jahr 2023 sollen 100 Millionen Gäste aus dem In- und Ausland durch das Königreich gereist sein.
Erst seit 2019 vergibt Saudi-Arabien Touristenvisa. Mit ein paar Klicks im Internet ist es innerhalb kürzester Zeit zu haben. Einige Attraktionen haben sich seit der Öffnung zu Hotspots entwickelt, etwa Al Balad – die bezaubernde Altstadt von Dschidda – oder die Nabatäerstätte Al-Ula mit ihren uralten Ruinen und brandneuen Luxushotels. Andere Orte sind noch Geheimtipps, etwa das Palmental Wadi Al Disah im Nordwesten oder der Küstenort Umluj, den Locals wegen seiner Bilderbuchstrände als „Malediven Saudi-Arabiens“ bezeichnen. Vielerorts fehlen noch die Infrastruktur und der Komfort etablierterer Destinationen. Dafür hat man viel Zeit und Raum, um die Orte in aller Ruhe zu erkunden.
Im April 2024 noch einmal zurück
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich wieder in Tabuk. Zwei Jahre nach meinem ersten Besuch bin ich zurückgekehrt. Ich will herausfinden, wie und ob sich die Stadt in der Zwischenzeit verändert hat. Es ist Ostermontag, doch davon ist in dem streng muslimischen Königreich nichts zu spüren. Stattdessen ist der Alltag seit drei Wochen vom Fastenmonat Ramadan geprägt. Cafés und Restaurants öffnen erst zum Sonnenuntergang. Dann erwachen die Straßen von Tabuk zum Leben: Familien und Freunde treffen sich zum Fastenbrechen – Iftar – im Park, breiten ihre Decken aus und picknicken. Restaurants servieren arabischen Kaffee mit Datteln. Am Straßenrand verkaufen Männer Spezialitäten wie Samosas. Jeden Abend bilden sich lange Schlangen vor ihren Ständen. Als wir uns einreihen, werden wir herzlich mit „Ramadan Kareem“-Wünschen begrüßt. Es sind scheinbar kleine Gesten, aber in Saudi-Arabien haben sie für mich eine große Bedeutung.
Denn obwohl sich das Land nach außen öffnet, spielt sich das Leben der meisten Expats weiterhin in geschützten Blasen ab. Diesen Eindruck gewinne ich jedenfalls in Gesprächen mit Menschen aus Südafrika, Deutschland oder Großbritannien, die wie wir in Tabuk leben. Der Großteil wohnt in geschlossenen Anlagen mit Pools und Fitnessstudios. Saudi-Arabien ist für viele ein reiner Arbeitsort. Freizeit und Vergnügen finden woanders statt. Immer wieder sprechen wir mit „Neomians“-Expats, die am Bau der Zukunftsstadt beteiligt sind und am Wochenende in die jordanische Küstenstadt Aqaba oder nach Dubai reisen. Weit weg vom strikten Alkoholverbot, das in Saudi-Arabien landesweit gilt.
John und ich gehen einen anderen Weg
Wir mieten uns Airbnbs in belebten Vierteln. Zum Schreiben setze ich mich am liebsten in Cafés. Die Internetverbindung ist gut, der Kaffee und Begleiter wie Safran- oder Dattelkuchen noch besser. Die Wochenenden nutzen wir für Roadtrips durch das riesige Land. Obwohl wir unsere Wohnung so oft wie möglich verlassen, kommen wir Land und Leuten seltener nahe als erhofft. Mit dieser Erfahrung sind wir nicht allein. Für einen Artikel spreche ich mit einer jungen deutschen Diplomatin, die in einem Konsulat hospitiert hat. Sie spricht fließend Arabisch und hat viele Jahre im Nahen Osten verbracht. In Saudi-Arabien fällt es selbst ihr schwer, außerhalb der Arbeit Kontakte zu Locals zu knüpfen: „Es ist das verschlossenste Land, das ich je bereist habe“, sagt sie.
Was uns schließlich hilft, neue Bekanntschaften zu schließen, sind wie so oft gemeinsame Hobbys. Im Mai 2022 machen John und ich einen Tauchkurs im Roten Meer vor Dschidda. Eine Woche lang erkunden wir mit Einheimischen die Unterwasserlandschaft, die als eine der vielfältigsten und lebendigsten der Welt gilt: Korallen strecken sich uns in allen Farben und Formen entgegen. Rochen, Schildkröten und Clownfische schweben um uns herum. Am letzten Tag feiern wir gemeinsam unseren Abschluss, es gibt Kuchen. Einer unserer Guides überreicht uns unsere Urkunden. Erst viel später fällt uns auf, mit welchem Nachnamen er unterschrieben hat: Al-Saud, der Name der Herrscherfamilie und ihrer rund 15.000 Mitglieder.
Land der Start-ups und Visionen
Ich habe lange und oft darüber nachgedacht, ob ich einen Aufenthalt in Saudi-Arabien empfehlen kann. Fest steht: Wer den Schritt wagt, muss bereit sein, sich auf eine fremde, stark religiös geprägte Kultur einzulassen. Dabei sind die regionalen Unterschiede groß. In kosmopolitischen Metropolen wie Riad oder Dschidda wird der Alltag ganz anders aussehen als in kleineren Städten oder abgelegenen Regionen wie Tabuk. Zumal sich Land und Gesellschaft weiterhin in einem Wandlungsprozess befinden: Was gestern noch galt, kann morgen schon überholt sein.
Saudi-Arabien gleicht einem komplexen Mosaik, das sich Stück für Stück neu zusammensetzt. Es ist karg, streng und verschlossen. Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick offenbart es aber auch eine Kultur und Geschichte, die so weit zurückreichen, dass sie den Verstand übersteigen. Menschen, die stolz sind auf ihr Land und wie es sich verändert. Pulsierende Metropolen voller Glanz, Glamour und Luxus. Ungezähmte Natur, von üppig grünen Wadis in der Wüste bis zu farbenprächtigen Korallenriffen im Roten Meer. Ein Land der Start-ups, der Visionen, der Superlative und der aufstrebenden Frauen.
Für mich war Saudi-Arabien der erste Schritt in die arabische Welt. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich meine Reise in Jordanien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten beginnen. Mit beiden Ländern bin ich bei späteren Aufenthalten viel schneller warm geworden. Eines ist Saudi-Arabien sicher nicht: Nahost für Anfänger. Aber die Entscheidung, mir selbst ein Bild vom Königreich im Umbruch zu machen, die habe ich nie bereut.
Annika Brohm …
… hatte 2021 ihren Job in Frankfurt gekündigt, um fortan als freie Autorin in Namibia zu leben. Dann bekam ihr Freund ein überraschendes Jobangebot aus Saudi-Arabien. Seitdem pendelt sie zwischen dem Süden Afrikas und dem Nahen Osten, immer auf der Suche nach neuen Geschichten.
Info Destination
Saudi-Arabien gilt als Wiege des Islams und beherbergt mit Mekka und Medina zwei seiner heiligsten Stätten. Der Alltag im Königreich ist bis heute stark religiös geprägt. Doch das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Saudi-Arabien hat sich in den letzten Jahren rasant verändert: Mit seiner „Vision 2030“ will Kronprinz Mohammed bin Salman das Land für Touristen und Investoren aus aller Welt attraktiv machen.
Lage und Bevölkerung: Saudi-Arabien ist der mit Abstand größte Staat der Arabischen Halbinsel. Rund 36 Millionen Menschen leben im Königreich – auf einer Fläche, die fast sechsmal so groß ist wie Deutschland. Das Land ist stark auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen: Expats und Migranten machen fast 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Währung: 1 Saudi-Riyal = 0,25 Euro
Anreise: Lufthansa und Saudia Airlines fliegen direkt von Frankfurt nach Riad, Saudi direkt auch ab München. Ab Frankfurt sind auch Direktflüge nach Dschidda möglich.
Bleisure Tipps
Saudi-Arabien hat viele Gesichter: Schon allein wegen der riesigen Fläche des Landes sind die regionalen Unterschiede groß. Die Hauptstadt Riad vereint Luxus mit reicher Geschichte, Kunst und Kultur – und ist ein Paradies für Feinschmecker. Wer die glamouröse Seite der Metropole erleben möchte, kann es Barack Obama und Donald Trump gleichtun und im Ritz Carlton einchecken. Authentische saudische Küche wie Kabsa, das inoffizielle Nationalgericht des Königreichs, gibt es zum Beispiel im Restaurant Suhail.
Die Hafenstadt Dschidda wird von Locals liebevoll „Braut des Roten Meeres“ genannt. Seit jeher beginnen hier Muslime aus aller Welt ihre Pilgerreise zu den heiligen Stätten in Medina und Mekka. Dschidda ist vergleichsweise liberal, vielfältig, entspannt. Nirgendwo lässt sich das so eindrucksvoll erleben wie beim Tauchen mit einheimischen Guides im Roten Meer – zum Beispiel im Ressort „La Plage“ mit privatem Strandabschnitt.
Deutlich abgelegener und konservativer ist Tabuk im Nordwesten des Landes. Dennoch gewinnt die Stadt an Bedeutung: In der Region entsteht die Zukunftscity NEOM, an deren Bau zahlreiche Expats aus aller Welt beteiligt sind. Vor allem Outdoor-Fans werden sich rund um Tabuk wohlfühlen: Die Felslandschaft nördlich der Stadt erinnert an das Wüstental Wadi Rum in Jordanien – nur dass man hier beim Wandern oder Wildcampen keine Menschenseele trifft.
Fotos: © Annika Brohm